Quellen-Zeitzeugen-Projekte als Einübung in den kritischen Dialog Jugendlicher mit ihren Groß-Eltern
Angst vor der Stasi, Unterdrückung, Revolution und Wiedervereinigung. Woran sich die Zeitzeugen einfach erinnern, ist für Schüler „graue Theorie“. Ihre Erfahrungswelt wird geprägt durch das freiheitlich-demokratische Gesellschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland, während ihre Eltern und Großeltern in einem diktatorischen System aufgewachsen sind, in der eine unabwählbare Partei den Staat okkupierte und eine geschlossene Gesellschaft errichtet hatte.
Um die DDR- und Diktaturgeschichte zum konkreten Unterrichts-Gegenstand werden zu lassen, bietet der Landesbeauftragte im Rahmen der politischen Bildungsarbeit Quellen-Zeitzeugen-Projekte an. Sie ermöglichen Schülern zum einen die Analyse von Akten der SED-Diktatur und zum anderen die Befragung von Zeitzeugen. Zwischen Zeitzeugen und Repressions-Akten besteht dabei ein direkter inhaltlicher bzw. historischer Zusammenhang.
Schüler werden durch vier Schritte aufgefordert, die Konstruktionen ihrer (Groß-)Eltern zu erkennen und sich eine Werthaltung zu erarbeiten:
1. Vorverständnis: Die Schüler sind dazu angehalten, das Gespräch mit ihren Groß-Eltern zu suchen und zu befragen, welche Bedeutung die DDR für diese hatte und wie sie das Leben in der Diktatur empfanden.
2. Arbeit mit Quellen und Film: Die Schüler analysieren u. a. MfS-Akten, aber auch filmische Darstellungen zu einem konkreten Fall, z. B.:
- 1950: Die Flugblatt-Aktionen Sondershäuser Schüler
- 1956: Der Eisenberger Kreis
- 1961: Briefe einer Erfurter Schülerin an den RIAS
- 1968: Flugblätter eines Mühlhäuser Lehrlings gegen die Niederschlagung des „Prager Frühlings“
- 1974: Das Plakat eines Erfurter Lehrlings beklagt Flucht und Tod an der Mauer
- 1978: Die Widerstandsgeschichte von Peter Wulkau und die IM-Geschichte von Hartmut Rosinger. Link zum Projektheft: www.schulportal-thueringen.de/media/detail
- 1979: Die Ballonflucht zweier Familien aus Pößneck
- 1983: Graffitti-Aktionen von Weimarer Jugendlichen
- 1984: Aufruf der Weimarer zum Wahlboykott
- 1988: Der erste Bürgerprotest im Eichsfeld
Die Sichtung der Akten erfolgt in den entsprechenden Archiven, etwa den Stasi-Archiven des Bundesarchivs in Erfurt, Gera oder Suhl. Ergänzt wird die Analyse von Quellen durch den Besuch von historischen Orten, etwa Gebäuden ehemaliger Stasi-Haftanstalten, wie beispielsweise in der Gedenkstätte Andreasstraße in Erfurt oder der Gedenkstätte Amthordurchgang in Gera.
3. Zeitzeugengespräch: Auf Basis der untersuchten Stasi-Akten, aber auch Filmen haben die Schüler nunmehr die Möglichkeit, den entsprechenden Zeitzeugen, über den die Akten geführt wurden, zu seinen Erfahrungen mit der Stasi, der politischen Haft und der SED-Diktatur, aber auch zum Thema des Verrats zu befragen. Das Treffen mit dem Zeitzeugen findet in der Schule oder an historischen Orten statt.
4. Neues Verständnis? Zuletzt sind die Schüler aufgefordert, das Projekt zu reflektieren. Vielleicht gelangen sie so zu einem neuen Verständnis? In Zentrum steht hierbei die Frage, inwiefern und warum inhaltliche Unterschiede zwischen MfS-Akten bzw. Darstellungen im Film und den Aussagen der Zeitzeugen bestehen. In der Reflexion des Projekts sind die Schüler schließlich in der Lage, zu einem reflektierten Umgang mit Zeitgeschichte zu gelangen und die eigene politische Werthaltung zu schärfen sowie den Wert unserer offenen Gesellschaft und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu erkennen.
Zwei Schüler, 10. Klasse, Gymnasium Suhl, Ein-Tages-Projekt mit 24 Schülerinnen, 25.06.20:
- „Man hört immer nur, wie es in der DDR war und wie das mit der Stasi war. Ich kenne es logischerweise jedoch nicht selbst und kann mir gerade das mit der Stasi schwer vorstellen, wie das war. Es hört sich für mich so unnormal an. Heute, gerade im Interview mit dem Zeitzeugen, habe ich aber noch neue Eindrücke gesammelt. Wie das Leben damals war kann ich mir jedoch immer noch nicht richtig vorstellen, aber die Eindrücke die ich vom Zeitzeugen heute neu gelernt habe, haben mich teilweise überrascht.“
- „DDR ist nicht Stasi, IM ist nicht böse/hinterhältig, sondern auch nur ein Mensch.“
Zwei Schüler, 10. Klasse, Gymnasium Gerstungen, Zwei-Tages-Projekt mit 50 Schülerinnen, 30.09.-01.10.2020:
- „Wir sollten über unser System und unsere Freiheit froh sein.“
- „Wissen über autoritäre Regime erhöht Wertschätzung der Demokratie.“
Studentin der Thüringern Fachhochschule für öffentliche Verwaltung Gotha, 22.10.2021: „Ich war von den Haftbedingungen überrascht. Allem voran von den Methoden, um psychischen Druck auf die Inhaftierten aufzubauen, sodass diese ein Geständnis unterschreiben und vor Gericht keine Chance auf einen Freispruch mehr haben.
Ich dachte nicht, dass die DDR so ein Unrechtsstaat war. Gespräche mit meinen Verwandten haben ergeben, dass meine Eltern eine sehr schöne und unbeschwerte Kindheit hatten, aber dass das Erwachsenenleben schwerer war.
"Ich habe mitgenommen, dass unsere Demokratie in jedem Fall ein äußerst schützenswertes Gut darstellt.“

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Referent für politisch-historische Bildung
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